Orgelmusik, Schamanengesänge, Olaf Schubert und die Besten der deutschen Indie-Szene – der Soundtrack der 1990er Jahre im Eichsfeld ist bunt. Schon vor der Wende verbindet der katholische Glaube die Menschen über Grenzen hinweg. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs wächst das Eichsfeld nun zusammen. In Heiligenstadt rettet der neue Bürgermeister in letzter Sekunde die historische Altstadt und baut aus dem Nichts neue Verwaltungsstrukturen auf.
Aktivist*innen aus Ost und West nehmen die Ideen der heutigen Fridays-for-Future-Bewegung vorweg und kämpfen, zusammen mit amerikanischen Ureinwohnern, für einen nachhaltigen Lebenswandel. Aus der ganzen Region zieht es Vergnügungssüchtige nach Worbis und Heiligenstadt: Im Glashaus und im Jazzclub wird die Nacht zum Tag! Während die großen DDR-Kombinate zerfallen, lockt der Westen, nur einen Katzensprung entfernt, mit lukrativen Arbeitsplätzen. Wer bleibt, erlebt die Wirkung von Treuhand und Investorenversprechen am eigenen Leib. Halt und Orientierung in dieser wilden Zeit bieten den Eichsfelder*innen der gemeinsame Glaube und ein Landrat, der damals wie heute die Interessen der Region vertritt.
Im Herbst 1989 lösen sich in einem atemberaubenden Tempo die staatlichen Strukturen der ehemaligen DDR auf. Während die Menschen über die Grenzen strömen und die neuen Freiheiten genießen, sind es engagierte Frauen und Männer, die das Machtvakuum füllen. Im Eichsfelder Heiligenstadt wird Bernd Beck der erste freigewählte Bürgermeister der noch existierenden DDR.
Wie sieht Ihr erster Arbeitstag als Bürgermeister aus?
Bernd Beck, erster freigewählter Bürgermeister a. D., Heiligenstadt
Neben Bürgermeister Beck ist es der neugewählte Landrat Dr. Harald Hennig, der von nun an die Geschicke des Eichsfelds in die Hand nimmt. Beide verkörpern einen Typus von Politiker, der bis dahin unbekannt war.
Haben Sie schon einmal eine Kommunalordnung geschrieben? Eine Landesverfassung? Eine Geschäftsordnung für den Stadtrat? Das klingt nicht nur nach einer Herkulesaufgabe – es ist eine! Mit Pragmatismus und Tatkraft finden die Eichsfelder eine Lösung des Problems.
Rückblickend ist eine gewisse Ahnungslosigkeit der handelnden Personen vielleicht ein Glücksfall der Geschichte. Schaut man sich heute die Dauer mancher Großprojekte an, wünscht man sich den Pragmatismus von damals zurück.
… heißt das Gebot der Stunde! Im ehemaligen Grenzgebiet bedeutet das noch mehr als im Rest der Republik: Ost und West müssen zusammenarbeiten.
Nach Jahren des Aufbaus agieren Ost- und Westgemeinden heute auf Augenhöhe. Aus dem hilfsbedürftigen Heiligenstadt ist ein Wettbewerber geworden.
Die Friedliche Revolution 1989 setzt der SED-Diktatur ein Ende. Nun beginnt die Aufarbeitung des Unrechtsstaats. Ehemalige Stasiinformant*innen werden enttarnt, Parteifunktionäre müssen sich verantworten. Trotzdem herrscht die Sorge, dass die alten Eliten wieder Fuß fassen könnten.
ehemaliger Betriebsrat bei Solidor Heiligenstadt und Kommunalpolitiker
Diese Erfahrungen sind es, die Hans-Gerd Adler zu einem radikalen Entschluss drängen.
ehemaliger Betriebsrat bei Solidor Heiligenstadt und Kommunalpolitiker
Wie tausende DDR-Bürger- und Bürgerinnen auch, macht sich Uta Oesterheld-Petry im Herbst 1989 auf den Weg über die Grenze. Dabei geht es der Umwelt- und Frauenaktivistin jedoch nicht um das Begrüßungsgeld und die bunte Warenwelt des Westens. In Duderstadt trifft sie Christel Wemheuer.
Umweltaktivistin
Es folgt eine enge Zusammenarbeit zwischen den Initiativen in Ost und West. Umwelterziehung, Ernährungsberatung, eine nachhaltige Lebensführung sollen den Eichsfeldern vermittelt werden.
Umweltaktivistin
Höhepunkt der gemeinsamen Arbeit ist im August 1990 die Ankunft amerikanischer Ureinwohner im Eichsfeld.
Der „Sacred Run“ ist ein Etappenlauf der Ureinwohner, der sich gegen Krieg und Umweltzerstörung richtet. Der Lauf startet in London, das Ziel ist Moskau. Die ehemalige Grenze, die Europa und die Welt in zwei Blöcke teilte, überqueren die Ureinwohner kurz hinter Duderstadt.
Mehr Understatement geht wohl nicht: unter dem harmlosen Titel Heiligenstädter Jazzclub e.V. verwandelt eine Handvoll junger Leute das Eichsfeld regelmäßig in einen Hexenkessel.
Jazzclub Heiligenstadt e.V.
Von Blues über Irish Folk bis Hardcore / Heavy Funk reicht die Bandbreite der eingeladenen Bands aus Ost und West. Im leicht baufälligen Mainzer Hof treten Sie auf, das Publikum ist buntgemischt und vor allem tanzwütig.
Neben vielen Stars der Alternative- und Independent Szene kommen im Jazzclub auch hoffnungsvolle Talente auf die Bühne. Zum Beispiel startet Olaf Schubert hier seine Karriere.
Jazzclub Heiligenstadt e.V.
Warum es gerade jeden Donnerstag passiert, wird wohl nie eindeutig geklärt werden. Fakt ist, dass an diesem Wochentag die Karawane der Vergnügungssüchtigen von West nach Ost zieht. Aus Göttingen oder Duderstadt rollen die Golf GTIs, Opel Mantas und Ford Escorts gen Worbis. Das Ziel der jungen Fahrer ist das Glashaus, ihr Traum: die ganz persönliche Vereinigung mit den Schönheiten des Ostens.
Clubbesitzer "Glashaus" Worbis
Eigentlich war das Glashaus in Worbis ein FDGB-Ferienheim für den staatlich verordneten Urlaub in der kleinen DDR. Mit der Wende ist das Interesse an dieser Art Erholung jedoch schlagartig erloschen. Das Ferienheim schlummert im Dornröschenschlaf.
Clubbesitzer "Glashaus" Worbis
Mit dem eigenen Sparbuch und Privatkrediten wird aus dem FDGB-Ferienheim ein Palast für Teenieträume. DJ Fresh eröffnet das neue Glashaus und sorgt für eine fulminante Party. Auf die folgt, eine Woche später der Kater. Kein/e Partygänger*in lässt sich blicken, bis…
Clubbesitzer "Glashaus" Worbis
Haben Sie es noch im Ohr? Den Sound der 90er. Steffen Thunert (hier in den 90ern) gibt eine kleine Auffrischung:
Clubbesitzer "Glashaus" Worbis
Nicht jede Veranstaltung im Glashaus gilt dem Vergnügen der Gäste. Dass es jedoch die Bundesregierung ist, die einen Saal in der Diskothek mietet, um denkbar schlechte Nachrichten zu verbreiten, hält bis dato keiner für möglich.
Clubbesitzer "Glashaus" Worbis
Nahezu im gesamten Ostblock hatten die Menschen mehrmals am Tag die Produkte des VEB Kombinat Solidor Heiligenstadt in der Hand. Reißverschlüsse, Briefklammern, Druckknöpfe, Nadeln – all das kam aus dem Eichsfeld. Bis zum 30. Juni 1990.
Was folgt, ist ein Wirtschaftskrimi, der stellvertretend für hunderte Ostbetriebe steht. Die Treuhand ist beauftragt, für die ehemaligen Kombinate neue Investoren zu finden. Oft genug mit zweifelhaftem Erfolg.
Massenweise werden die mehr oder weniger maroden DDR-Betriebe an Investoren aus dem Westen übergeben. Oft genug schaut die Treuhand weder auf die Qualifikation noch die Absichten der neuen Eigentümer. Eine Einladung für Glücksritter und Hasardeure.
Ein Großteil der Angestellten sucht sein Heil in der Flucht! Im nahen Westen locken gutbezahlte und vor allem sichere Arbeitsplätze. Die zukunftsträchtigen Sparten von Solidor spalten sich ab und mit ihnen auch deren Belegschaft. Im Stammwerk kämpfen die Übriggebliebenen einen aussichtslosen Kampf.
1997 werden die Reste von Solidor von einer großen Industriegruppe übernommen. Sie besinnt sich auf das Kerngeschäft, die Metallverarbeitung, und ist bis heute in Heiligenstadt ansässig. Von den 2.400 Angestellten 1989 sind heute noch 60 im Werk beschäftigt.
ehemaliger Bürgermeister Heiligenstadt
Eichsfeld und katholischer Glaube sind wie zwei Seiten einer Medaille. Historisch gesehen war es die Zugehörigkeit zum Mainzer Fürstbistum, welche die Region zur katholischen Enklave machte. Der gemeinsame Glaube verbindet Ost und West auch über die Zeit der Trennung und führt zu einer Art Sonderstatus inmitten der DDR.
Die Wende eröffnet den gläubigen Eichsfeldern ganz neue Möglichkeiten, ihre Religion zu leben. Gemeinsame Gottesdienste, Prozessionen und Walfahrten führen Brüder und Schwestern wieder zusammen.
Kirchgemeinde Teistungen
Auch der Aufbau Ost wird von der Kirche tatkräftig unterstützt.
Bis heute ist der katholische Glaube einer der wichtigsten Bestandteile der Eichsfelder Identität. Bisheriger Höhepunkt ist dabei unbestritten der Besuch des Papstes im Eichsfeld, was das Göttinger Tageblatt als „Jahrhundertereignis“ feiert.
Was tun mit den Symbolorten der Deutschen Teilung? Während der Großteil der Eichsfelder in die Zukunft schaut und die Teilung hinter sich lassen möchte, erinnern bei jeder Fahrt zwischen Ost und West die baulichen Zeugnisse an die Teilung. Wie an vielen Orten, ringt man auch hier um diese geschichtsträchtigen Orte.
Vorsitzender des Trägervereins Grenzlandmuseum Eichsfeld e.V.
In den frühen 90ern beginnt der Kampf um einen würdigen Umgang mit dem ehemaligen Grenzübergang. Dabei ist das Bewusstsein für diesen besonderen Ort zunächst nicht sehr ausgeprägt. Die Straßenverkehrsbehörden sehen in dem Übergang vor allem ein Hindernis auf Ihrer Bundesstraße: Die ehemalige Grenze soll weg, am besten spurlos!
Vorsitzender des Trägervereins Grenzlandmuseum Eichsfeld e.V.
Mit vereinten Kräften streiten Ost- und Westeichsfelder für ihr Grenzmuseum.
Vorsitzender des Trägervereins Grenzlandmuseum Eichsfeld e.V.
Heute ist das Grenzlandmuseum ein fester Bestandteil in der gesamtdeutschen Erinnerungskultur. Tausende Schüler*innen und interessierte Gäste kommen jedes Jahr hier her, um einen authentischen Eindruck des Eisernen Vorhangs zu bekommen und aus dieser Geschichte Lehren zu ziehen.
Vorsitzender des Trägervereins Grenzlandmuseum Eichsfeld e.V.
Wie viele Eichsfelder Häuser hat Firma Apel gestrichen? Es müssen Unzählige sein, denn der Traditionsbetrieb ist hier seit Jahrzehnten ansässig. Schon zu DDR-Zeiten gehören die Apels zu den wenigen Selbstständigen in der DDR. Mit der Wende soll sich auch für sie vieles ändern.
Malerbetrieb Apel
Die schlechte Wirtschaftslage in den neuen Ländern lässt den Blick schnell über die ehemalige Grenze schweifen. Wohnen im Osten, arbeiten im Westen wird zu einem Massenphänomen.
Malerbetrieb Apel
Die Auftraggeber*innen schätzen die Handwerker aus dem Osten. Schnell, versiert, zuverlässig und vor allem kostengünstig. Ein Ruf, den sich Apels hart erkämpfen müssen.
Malerbetrieb Apel
Unzählige Vertreter*innen erobern den Osten und hoffen auf schnelles Geld. Ein besonders renitentes Exemplar begegnete Malermeister Apel.
Malerbetrieb Apel
EINHEITSBILDER ist eine Ausstellung der musealis GmbH – gefördert von der Bundesstiftung Aufarbeitung unter der Schirmherrschaft des Beauftragten der Bundesregierung für die neuen Bundesländer, mit freundlicher Unterstützung der Mall of Berlin.
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Andreas Feddersen
AUSSTELLUNGSKONZEPT
Johannes Romeyke, Andreas Feddersen, Dorothea Warneck
RECHERCHE, AUTORINNEN & AUTOREN
Johannes Romeyke, Marc Machold, Dorothea Warneck, Peter Schütz, Andreas Feddersen
KAMERA, SCHNITT & POSTPRODUKTION
Johannes Romeyke
ILLUSTRATIONEN
Matthias Seifert
SCREENDESIGN
Markus Mönch
BILDBEARBEITUNG
Christian "Enzo" Manzano
PROGRAMMIERUNG
Kerstin Boehmer (mediadee)
BERATUNG
Ulrich Mählert
MEDIENTECHNIK
Carsten Tetens
FOLIENGRAFIK
Mathias Richter
MEDIENTISCHBAU
Marcus Reinhardt
FOLIENGRAFIK
Mathias Richter
LEKTORAT & KORREKTORAT
Dr. Jan Philip Müller
In der Ausstellung ist das verwendete Bildmaterial an den Signaturen entsprechend gekennzeichnet. Wir danken allen Personen, Institutionen und Archiven herzlich, die ihre Erlaubnis erteilt und die Ausstellung unterstützt haben. Die musealis GmbH hat sich bemüht, alle Inhaber*innen von Abbildungsrechten ausfindig zu machen. Sollte dies an einer Stelle nicht gelungen sein, bitten wir um Mitteilung.
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